69 Bundestagsabgeordnete stimmen für:
(Stand 24.6.2022)
Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Suizidhilfe
Artikel 1
Gesetz zur Wahrung und Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts am Lebensende (Suizidhilfegesetz)
§ 1 Recht auf Hilfe zur Selbsttötung
Jeder, der aus autonom gebildetem, freiem Willen sein Leben beenden möchte, hat das Recht, hierbei Hilfe in Anspruch zu nehmen.
§ 2 Recht zur Hilfeleistung
(1) Jeder darf einem anderen, der aus autonom gebildetem, freiem Willen sein Leben beenden möchte, Hilfe leisten und ihn bis zum Eintritt des Todes begleiten.
(2) Niemand kann verpflichtet werden, Hilfe zur Selbsttötung zu leisten.
(3) Niemandem darf unbeschadet des § 6 aufgrund seiner Berufszugehörigkeit untersagt werden, Hilfe zu leis- ten oder Hilfeleistung zu verweigern.
§ 3 Autonom gebildeter, freier Wille
(1) Ein autonom gebildeter, freier Wille setzt die Fähigkeit voraus, seinen Willen frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung bilden und nach dieser Einsicht handeln zu können. Es ist davon auszuge- hen, dass eine Person regelmäßig erst mit Vollendung des 18. Lebensjahres die Bedeutung und Tragweite einer Suizidentscheidung vollumfänglich zu erfassen vermag.
(2) Dem Suizidwilligen müssen alle entscheidungserheblichen Gesichtspunkte bekannt sein. Erforderlich ist, dass er über sämtliche Informationen verfügt, die ihn befähigen, auf einer hinreichenden Beurteilungsgrund- lage realitätsgerecht das Für und Wider abzuwägen. Dies setzt insbesondere voraus, dass der Suizidwillige Handlungsalternativen zum Suizid kennt, ihre jeweiligen Folgen bewerten kann und seine Entscheidung in Kenntnis aller erheblichen Umstände und Optionen trifft.
(3) Von einem autonom gebildeten, freien Willen ist nur auszugehen, wenn der Entschluss zur Selbsttötung ohne unzulässige Einflussnahmen oder Druck gebildet worden ist.
(4) Von einem autonom gebildeten, freien Willen kann nur dann ausgegangen werden, wenn der Entschluss von einer gewissen Dauerhaftigkeit und inneren Festigkeit getragen ist.
§ 4 Beratung
(1) Jeder, der seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, hat das Recht, sich zu Fragen der Suizidhilfe beraten zu lassen. Die Beratung ist ergebnisoffen zu führen und darf nicht bevormunden.
(2) Die Beratung soll die Informationen vermitteln, die dazu befähigen, auf einer hinreichenden Beurteilungs- grundlage realitätsgerecht das Für und Wider einer Suizidentscheidung abzuwägen. Die Beratung umfasst insbesondere Informationen über
1. die Bedeutung und die Tragweite der Selbsttötung;
2. Handlungsalternativen zum Suizid, sofern die Person in der Beratung ihrerseits entsprechende Informationen zugänglich macht, auch über den eigenen gesundheitlichen Zustand sowie im Falle einer Erkrankung in Betracht kommende alternative therapeutische Maßnahmen und pflegerische oder palliativmedizinische Möglichkeiten;
3. die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Suizidhilfe;
4. die Folgen eines Suizides und eines fehlgeschlagenen Suizidversuches für den Suizidwilligen und sein näheres persönliches und familiäres Umfeld;
5. Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Unterstützungs- und Betreuungsangeboten sowie;
6. jede nach Sachlage erforderliche weitere medizinische, soziale und juristische Information.
(3) Eine Person mit Suizidgedanken ist unverzüglich zu beraten.
(4) Die Person, die beraten wird, kann auf ihren Wunsch gegenüber der sie beratenden Person anonym bleiben.
(5) Die Beratung darf nicht von der Person vorgenommen werden, die an der späteren Suizidhilfe beteiligt ist.
(6) Soweit erforderlich sind zur Beratung im Einvernehmen mit der Person mit Suizidwunsch
1. andere, insbesondere ärztlich, fachärztlich, psychologisch, sozialpädagogisch, sozialarbeiterisch oder juristisch ausgebildete Fachkräfte und
2. andere Personen, insbesondere nahe Angehörige hinzuzuziehen.
(7) Die Beratungsstelle hat nach Abschluss der Beratung der beratenen Person, sofern sie nicht nach Abs. 4 anonym bleiben möchte, eine mit Namen und Datum versehene Bescheinigung darüber auszustellen, dass eine Beratung stattgefunden hat. Hat die beratende Person begründete Zweifel daran, dass die beratene Per- son aus autonom gebildetem, freiem Willen im Sinne des § 3 Absatz 1 und Absatz 3 heraus in Betracht zieht, ihr Leben zu beenden, hat sie dies auf der Bescheinigung zu vermerken.
(8) Die Beratung ist für die beratene Person und die nach Absatz 6 Nummer 2 hinzugezogenen Personen unentgeltlich.
§ 5 Beratungsstellen
(1) Für die Beratung nach § 4 haben die Länder ein ausreichend plurales Angebot an wohnortnahen Beratungs- stellen sicherzustellen. Sie tragen dafür Sorge, dass für Suizidwillige mit körperlichen Einschränkungen ein aufsuchendes Beratungsangebot besteht. Die Beratungsstellen bedürfen besonderer staatlicher Aner- kennung nach Absatz 2. Als Beratungsstellen können auch Einrichtungen freier Träger sowie Ärztinnen und Ärzte anerkannt werden.
(2) Eine Beratungsstelle darf nur anerkannt werden, wenn sie die Gewähr für eine fachgerechte Beratung nach
§ 4 bietet und zur Durchführung der Beratung in der Lage ist, insbesondere
1. über hinreichend persönlich und fachlich qualifiziertes und der Zahl nach ausreichendes Personal verfügt,
2. sicherstellt, dass zur Durchführung der Beratung erforderlichenfalls kurzfristig eine ärztlich, fachärzt- lich, psychologisch, sozialpädagogisch, sozialarbeiterisch oder juristisch ausgebildete Fachkraft hin- zugezogen werden kann,
3. mit allen Stellen zusammenarbeitet, die öffentliche und private Hilfen für Suizidwillige gewähren, und
4. mit keiner Einrichtung, in der Suizidhilfe geleistet wird, derart organisatorisch oder durch wirtschaft- liche Interessen verbunden ist, dass hiernach ein materielles Interesse der Beratungseinrichtung an der Durchführung von Suizidhilfe nicht auszuschließen ist.
(3) Die zur Sicherstellung eines ausreichenden Angebotes erforderlichen Beratungsstellen haben Anspruch auf eine angemessene öffentliche Förderung der Personal- und Sachkosten.
(4) Die Beratungsstellen sind verpflichtet, die ihrer Beratungstätigkeit zugrunde liegenden Maßstäbe und die dabei gesammelten Erfahrungen jährlich in einem schriftlichen Bericht niederzulegen. Als Grundlage für den schriftlichen Bericht nach Satz 1 hat die beratende Person über jedes Beratungsgespräch eine Aufzeich- nung zu fertigen. Diese darf keine Rückschlüsse auf die Identität der beratenen Person und der zum Bera- tungsgespräch hinzugezogenen weiteren Personen ermöglichen. Sie hält den wesentlichen Inhalt der Bera- tung und angebotene Hilfsmaßnahmen fest.
(5) Die zuständige Behörde hat mindestens im Abstand von drei Jahren zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für die Anerkennung nach Absatz 2 noch vorliegen. Sie kann sich zu diesem Zweck die Berichte nach Absatz 4 Satz 1 vorlegen lassen und Einsicht in die nach Absatz 4 Satz 2 anzufertigenden Aufzeichnungen nehmen. Liegt eine der Voraussetzungen des Absatz 2 nicht mehr vor, ist die Anerkennung zu widerrufen.
(6) Näheres regelt das Landesrecht.
§ 6 Verschreibung eines Arzneimittels zum Zwecke der Selbsttötung
(1) Ein Arzt darf einer Person, die aus autonom gebildetem, freiem Willen ihr Leben im Sinne des § 3 beenden möchte, ein Arzneimittel zum Zwecke der Selbsttötung verschreiben.
(2) Der Arzt ist verpflichtet, den Suizidenten mündlich und in verständlicher Form über sämtliche für die Selbst- tötung wesentlichen medizinischen Umstände aufzuklären. Dazu gehören der voraussichtliche Ablauf der Selbsttötung sowie der Hilfe hierzu und der Risiken der medizinischen Methode. Bei der Aufklärung ist, sofern der Suizidwillige unter einer Erkrankung leidet, auch auf Behandlungsmöglichkeiten und Möglich- keiten der Palliativmedizin hinzuweisen.
(3) Der Arzt hat sich durch Vorlage der Bescheinigung nach § 4 Absatz 7 nachweisen zu lassen, dass sich die suizidwillige Person höchstens 8 Wochen zuvor in einer Beratungsstelle hat beraten lassen.
(4) Von einer gewissen Dauerhaftigkeit und inneren Festigkeit des Sterbewunsches darf der Arzt in der Regel erst ausgehen, wenn zehn Tage seit der Beratung vergangen sind.
(5) Der Arzt ist verpflichtet, sämtliche für die Beurteilung des autonom gebildeten, freien Willens zur Lebens- beendigung wesentlichen Gesichtspunkte, insbesondere auch seine Aufklärung des Suizidwilligen nach Ab- satz 2 zu dokumentieren. Die Beratungsbescheinigung nach § 4 Absatz 7 ist zur Dokumentation zu nehmen.
(6) Das Bundesministerium für Gesundheit wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bun- desrates das Nähere zur Suizidhilfe zu regeln, insbesondere zu den Anforderungen an die fachliche Qualifi- kation der Ärzte, Meldepflichten, der Vergütung der Hilfe zur Selbsttötung und der Prävention gegen die Etablierung rein auf Gewinnstreben ausgerichteter, insbesondere institutionalisierter, Angebote.
§ 7 Berichtswesen, Evaluation (1) Die Bundesregierung erstellt jährlich, erstmals ein Jahr nach Inkrafttreten dieses Gesetzes, einen Bericht über die vorgenommenen Beratungen nach § 4 sowie die Verschreibungen nach § 6. Der Bericht soll darüber hinaus erkennbare Entwicklungen in der Hilfe zur Selbsttötung und insbesondere auch hinsichtlich potenzieller rein auf Gewinnstreben ausgerichteter Angebote enthalten.
(2) Die Bundesregierung evaluiert alle drei Jahre, erstmals drei Jahre nach Inkrafttreten dieses Gesetzes, dessen Wirksamkeit.
Artikel 2 Änderung des Betäubungsmittelgesetzes
Dem § 13 Absatz 1 des Betäubungsmittelgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. März 1994 (BGBl. I S. 358), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 30. November 2020 (BGBl. I S. 2600) geändert worden ist, wird folgender Satz angefügt: „Die Anwendung oder Verschreibung ist auch begründet, wenn die Voraussetzungen des § 6 des Gesetzes zur Wahrung und Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts am Lebensende (Suizidhilfegesetz) vorliegen.“
Artikel 3 Änderung des Strafgesetzbuches
In § 203 Absatz 1 Nummer 5 des Strafgesetzbuches in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 47 des Gesetzes vom 21. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3096) geändert worden ist, werden vor dem Komma am Ende die Wörter „und der §§ 4 und 5 des Suizidhilfegesetzes“ eingefügt.
Artikel 4 Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.
Berlin, den 21. Juni 2022
Katrin Helling-Plahr
Dr. Petra Sitte
Helge Lindh
Dr. Till Steffen
Otto Fricke
Valentin Abel
Katja Adler
Christine Aschenberg- Dugnus
Dr. Dietmar Bartsch
Olaf in der Beek
Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar)
Jürgen Berghahn
Matthias W. Birkwald
Sandra Bubendorfer-Licht
Heike Engelhardt
Dr. Marcus Faber
Susanne Ferschl
Maximilian Funke-Kaiser
Knut Gerschau
Timon Gremmels
Reginald Hanke
Philipp Hartewig
Peter Heidt
Markus Herbrand
Torsten Herbst
Katja Hessel
Dr. Gero Hocker
Dr. Christoph Hoffmann
Reinhard Houben
Dieter Janecek
Gyde Jensen
Carlos Kasper
Rainer Keller
Anette Kramme
Michael Kruse
Dr. Lukas Köhler
Simona Koß
Wolfgang Kubicki
Konstantin Kuhle
Dr. Karl Lauterbach
Caren Lay
Ulrich Lechte
Sven Lehmann
Sylvia Lehmann
Jürgen Lenders
Ralph Lenkert
Thorsten Lieb
Christian Lindner
Dr. Gesine Lötzsch
Kristin Lütke
Franziska Mascheck
Erik von Malottki
Anikó Merten
Alexander Müller
Frank Müller-Rosentritt
Sören Pellmann
Sabine Poschmann
Thomas Sattelberger
Axel Schäfer
Ria Schröder
Anja Schulz
Dr. Marie-Agnes Strack- Zimmermann
Jens Teutrine
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Gerald Ullrich
Johannes Vogel
Nicole Westig
Bernd Westphal
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