Vier Jahre Studium, von analytischer Geometrie über physikalische Chemie bis zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, jede Prüfung bestanden. Okay, manche gerade so, dafür aber ein Diplom gleich noch obendrauf.
Schuljahresanfang 1972 in der Bezirkshauptstadt der Niederlausitz. Mit stolzgeschwellter Brust begab sich der frisch gebackene Diplomlehrer für Mathematik und Chemie zum Unterricht in die Cottbusser 17. Oberschule.
Samstag, sein erster Tag als Lehrer an der Schule und – er kam zu spät. Na prima! Beppo hatte die samstags verkürzten Pausen verschwitzt. Kein guter Start. Ausgerechnet gleich in der 10a.
Das machte es ihm als Junglehrer doppelt schwer, von den Schülern, nur ein paar Jahre jünger als er, respektiert zu werden. Stimmengewirr und Unruhe in der Klasse, keiner der Schüler machte Anstalten, an seinen Platz zu gehen. Bemerkungen zur Verspätung, Anspielungen auf das fast schulterlange Haar (die Länge entsprach 1972 nicht der Norm für Lehrer).
Wie krieg ich das wieder hin?, fragte sich der Junglehrer. Wortlos baute er sich vor dem Lehrertisch auf und begegnete dem provozierenden Lärm mit Schweigen. Betont langsam sah er von einem Schüler zum anderen. Wortloser Blickkontakt zu jedem. Und wie erwartet verunsicherte das die „Meute“. Es wurde fast ruhig. Im richtigen Moment dann: „Ich entschuldige mich bei Ihnen für meine Verspätung. Die veränderte Pausenregelung für sonnabends habe ich nicht beachtet. Für Fehler stehe ich gerade, das erwarte ich auch von Ihnen. Da Sie mich nicht bestrafen können, werde ich mich selbst bestrafen. Jetzt sofort. Machen Sie Vorschläge, wie.“
Tuschel, Tuschel. Was ist das denn für einer? So einen Lehrer hatten sie noch nicht erlebt.
„Bitte schlagen Sie eine Strafe für mein Zuspätkommen vor.“ Ein Witzbold skandierte hinter vorgehaltener Hand, aber so, dass es Beppo hören musste, eine Phrase, mit der FDJ-Funktionäre Ende der 60-er Jahre Langhaarige schikanierten: „Haa-re schnei-den, Haa-re schnei-den“.
Die Klasse lachte, wie man eben lacht, wenn Autorität provoziert wird. Fünfzig Prozent der Schüler an dieser Schule hatten Stasi- und Militärangehörige als Eltern. Beide „Betriebe“ im Umkreis der Schule galten in Bezug auf lange Haare nicht gerade als tolerant. Das färbte auch auf die Kinder ab.
„Erstens: Ich bin Rockmusiker und zweitens: Ich habe keine Lust, dem Schuldirektor diesen Gefallen zu tun. Der will das nämlich auch. Leider unmöglich.“
Als die Schüler so erfuhren, ihr Chemielehrer sei ein Rockmusiker, raunten einige auf.
„Singen Sie Give Peace a Chance“ kicherte unsicher eine Schülerin.
„Das wäre keine Strafe für mich, sondern für Sie.“ Lachen. Von vorn meldete sich ein breitschultriger, junger Mann, dem man sofort geglaubt hätte, dass er wie ein Profisportler trainiert.
„Wie wär‘s mit fünfzig Liegestützen!“
„Fünfzig Liegestütze? Sie sollen mich bestrafen, nicht töten. Ich mache ein Angebot. Fünfundzwanzig Liegestütze werde ich versuchen, aber dann beginnen wir mit dem Unterricht. Einverstanden?“
Beppo schaute in die Runde. Verblüffung, dann Applaus und laute Zustimmung. Um den Effekt zu erhöhen, räumte er den Lehrertisch frei. Artistische Darbietungen benötigen eine Bühne. Außerdem wären ihm Liegestütze unten am Boden wie eine Erniedrigung vorgekommen, kontraproduktiv für Respekt. Zwanzig Liegestütze hatte er in der Studienzeit geschafft, aber für fünfundzwanzig Stück musste er über sich hinauswachsen. Schaun wir mal.
Beppo führte die Liegestütze exakt aus, jedes Mal berührte seine Brust fast den Tisch. Ab etwa dem achtzehnten wurde es schwierig, seine Muskeln fingen an zu zittern, er ächzte. Doch inzwischen hatte der neue Chemielehrer die Herzen seiner Schüler erobert. Lauthals feuerten sie an ihn. Sie standen um den Lehrertisch herum und zählten jeden einzelnen Liegestütz herunter. Mit letzter Kraft schaffte er auch den fünfundzwanzigsten. Tobender Beifall.
„Was ist denn hier los?“, ertönte eine energische Stimme hinter dem Wall von Schülern. Durch den Krach alarmiert, wollte der Direktor ihm zur Hilfe eilen und verharrte nun eher befremdet an der Tür. Beppo rappelte sich mit letzter Kraft vom Lehrertisch hoch. „Äh, ein Beispiel für Motivation zum Lernen!“, erwiderte Beppo, als wären Liegestütze auf dem Lehrertisch das Normalste auf der Welt. „Ich habe gerade demonstriert, wie man den inneren Schweinehund überwindet, um durch bessere Leistungen die Republik für den Sieg des Sozialismus zu stärken. Wenn Sie verstehen.“ Was hätte der Schuldirektor gegen diese hohle Phrase sagen können? Die Schüler schmunzelten. Beppo hatte nie wieder Schwierigkeiten mit der Disziplin, doch noch oft mit dem Direktor.
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