Ich bin mit Schlangen aufgewachsen.
In der DDR.
Mit Warteschlangen. Ob Fliesen, Zement oder Banane – was gab‘s denn ohne Anstehen zu kaufen?
Das „Neue Deutschland“! Die Zeitung der SED. Die gab es immer.
Und Fischläden, da gab es frischen, vor den Augen des Käufers geschlachteten Fisch und der wurde dann in das "Neue Deutschland" eingewickelt, weil der Fisch glitschig war. Der Kunde vestaute den Fisch ideologisch korrekt verpackt in seinem Einkaufsnetz, so wurde die Zeitung nachhaltig genutzt. Ja, damals hatten wir auf diesem Gebiet den Westen überholt ohne ihn einzuholen. (Um diesen Gag zu verstehen, muss man Walter Ulbrichts Spruch von 1957 kennen, den schon damals niemand verstanden hat.)
Schlangen waren Zeichen von Mangelwirtschaft. Verständlicherweise habe ich nie Leute gesehen, die sich die Wartezeit mit einer sozialistischen Zeitung wie dem ND vertrieben hätten. Nur Genossen lasen diese Zeitung. Und wer Genosse aber kein Bonze war, der wollte in der sozialistischen Wartegemeinschaft nicht unbedingt als solcher erkannt werden. Da wurde nämlich viel gemeckert. Weil – wenn es was gab, gab es zu wenig davon. Oder es gab es überhaupt nicht. So nach dem Motto: „Ham se Boxer-Jeans?“ „Nee, Boxer-Jeans haben se im Laden gegenüber nicht. Hier ham wa Exquisit-Budapester-Schuhe nicht.“
Aber – es gab ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Wenn man jeden Tag Schlange stehen muss, schweißt das zusammen. Diejenigen, die Beziehungen hatten, die brauchten gar nicht in der Schlange zu warten. Bei diesen Kunden bückten sich die Verkäufer, um die Ware unter dem Ladentisch hervorzuholen. „Bückware“ nannte man das.
Übrigens diesen Begriff kannte man in dieser Zeit auch im Wirtschaftswunderland. Doch im prüden Nachkriegs-Westdeutschland war Bückware was anderes. Da bückten sich Darstellerinnen in Foto-Heften oder Schmalfilmen: Pornografie.
Das war im Osten total verboten. Dafür hatten wir viele FKK-Strände und die leicht bekleideten Damen vom Fernsehballett. Die bildeten auch manchmal Schlangen – seitwärts, so genannte Girl-Reihen. Ja, es gab durchaus auch beliebte Schlangen, zum Beispiel vor einem Puhdys-Konzert. Trotzdem: Wie habe ich mich nach der Wende gefreut, nicht mehr anstehen zu müssen.
Doch nach dreißig Jahren begegnete mir in diesem Jahr gleich ein wahres Schlangenmonster. Es hieß Impfzentrum.
Damit hatte ich nicht gerechnet.
Deutsche Gründlichkeit, Organisationstalent und Ordnung. wo sind diese Werte geblieben? Hat die AfD sie geklaut, für ihr Parteiprogramm? (Die Antwort, mein Freund, weiß ganz allein der Wind.) Jedenfalls stand ich nach dreißig Jahren wieder mal in einer Schlange. Ostalgie pur. Doch ich vermisste den Zusammenhalt wie damals – in der Fußnote der Geschichte.
Die Leute warteten schweigsam, schlecht gelaunt, schicksalsergeben. Doch dann geschah etwas, das in der DDR nicht hätte passieren können.
Nachdem ich nur wenige Minuten am Ende der Schlange stand, kam eine Dame angeschnauft. Korpulent, Anfang sechzig, wütend und puterrot im Gesicht. Sie schimpfte wie ein Rohrspatz mit einer Wortwahl, die ihrer äußeren Erscheinung krass widersprachen. Massenhaft Goldketten und Ringe, Gucci-Tasche, Channel-Kostüm signalisierten: Untere Oberschicht.
Sie stürmte nach vorn, wahrscheinlich um eine ganz kleine, süße VIP-Schlange zu entdecken. Wie beim Flughafen „priority boarding“ (Fluggäste, die zuerst reindürfen). Nee, gabs hier nicht.
Ihr Schimpfen wurde immer übler. Einige verdrehten die Augen, andere schüttelten den Kopf, ich fragte mich, was soll das? Denkt sie ihr Gezeter bringt irgendjemanden in der Schlange dazu, ihr den Platz anzubieten? Oder wollte sie uns mit ihrem Reichtum beeindrucken? Was denkt die? Dass die ganze Schlange plötzlich anfängt zu skandieren?
„Wir sind nur Volk! Wir sind nur Volk!“ Ha!
Die Privatkassenpatientin kam auf mich zu, und fragte mit einem Blick, der mir Ehre signalisierte, dass sie mich überhaupt beachtet: „Sagen Sie, ist das hier das Ende der Schlange?“
Nö, antwortete ich, wir stehen alle verkehrt herum. Sie sind die Erste.
Mit einem Schlag gab es in der Schlange wieder Zusammenhalt. Lachen verbindet.
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